„Tatort Mitte“

An der Stralsunder Straße wächst ein Berlin-Ligist heran

von Matthias Vogel

Im Herzen Berlins wird seit einiger Zeit ein neuer „Tatort“ gedreht. Nicht etwa eine weitere Folge des TV-Klassikers, vielmehr wird an einer neuen Geburtsstätte erfolgreichen Fußballs gefeilt. Das Ergebnis ist aber genauso mit Spannung zu erwarten, wie das Ende eines Krimis. Für die Landesliga-Frauen des SV Rot-Weiß Viktoria Mitte hat nämlich nach langer Suche in Antonio Schmid endlich einen Trainer gefunden, der „press“ passt. Das geschah zwar bereits vor den Folgen der Corona-Pandemie, dafür waren damals einige interessante Handlungsstränge noch gar nicht im Drehbuch verankert.

Die Begegnung, die für die mittlerweile eineinhalb Jahre währende Zusammenarbeit Rechnung trug, könnte in einem Fernseh-Thriller verwurstet werden – wenn auch nur zur Nebenhandlung. Viktorias Top-Torjägerin Sara Dieng arbeitet bei der Mordkommission und Antonio Schmid bei der Spurensicherung, und die beiden haben sich tatsächlich an Berliner Tatorten kennengelernt. So erfuhr Dieng von Schmids Affinität zum Fußball, klopfte an, und der 38-Jährige machte auf, trotz fehlender Erfahrung als Trainer. Deshalb gut für ihn: Der allseits bekannte Satz des TV-Pathologen – „Näheres nach der Obduktion“ – musste vor der Vertragsunterzeichnung nicht gesprochen werden, denn Viktoria Mitte war ja alles andere als ein „Mordopfer“. Höchstens ein noch nicht ganz lebendiger Patient.

Aufstieg 18/19: Die Fusionself Viktoria Mitte/Pfefferwerk schlägt Bero II mit 2:0. Foto: Matthias Vogel

Schon vor der nun gelungenen Symbiose reichte schließlich die Vitalität der ersten Garnitur aus, um die Niederungen des Bezirksliga-Fußballs zu verlassen. Das hatte freilich auch mit dem Wechsel des kompletten Teams des Bezirksligisten SV Pfefferwerk an die Stralsunder Straße zu tun. Die Breite des Kaders war nun kein Thema mehr und wegen Spielerinnen wie Dieng passte auch die Tiefe: Mit 29 Treffern ballerte sie „Mitte“ nach der Fusion auf Platz 2 der Bezirksliga-Saison 2018/19, brach für das Rückspiel des Relegationsspiels gegen Berolina Mitte II (Hinspiel 0:0) unter der Leitung von Interims-Coach Geronimo Komp (Trainer eigene Jugend) extra ihren Urlaub ab und markierte beide Treffer zum 2:0-Sieg der Viktoria. Als der Aufstiegssekt über den „Bero“ spritzte, saß Dieng fast schon wieder im Flieger zurück nach Italien. Trotz aller Freude war überdies klar: Der gute Rat für die Trainersuche blieb teuer. Komp hatte zur Relegation lediglich für Nour Hamzeh einspringen müssen, der nach kurzem Engagement wieder seinen Hut genommen hatte. Das Amt zu behalten, lag ihm von vorneherein fern.

Und eine Weltmeisterin ist auch dabei …

Irgendein Gespräch an irgendeinem „Tatort Mitte“ schwappte dann eben Schmid an den Spielfeldrand – nach aktuellem Stand ein absoluter Glücksfall. Denn Spielerinnen erfreuen sich seither ebenso über ansprechendes Training, wie der Verein über regen Zulauf. Drei Mannschaften hatten die Rot-Weißen in die aktuellen, vom Lockdown aufgehaltenen Rennen geschickt, zur Landesliga-Elf gesellten sich gleich zwei 11er-Garnituren in den beiden Berliner Bezirksligen – einfach enorm und derzeit Alleinstellungsmerkmal. Und noch immer stimmt die Qualität.

Top-Torjägerin Sara Dieng hätte immer weiter oben spielen können, wollte sie aber nicht. Lieber macht sie sich für Viktoria Mitte stark.
Foto: Matthias Vogel

Unter den vielen Neuzugängen unter der Ägide Schmids, der als aktiver Kicker in der Landesliga Thüringen für den FC Eisenach am Ball war und hier in Berlin in der Freizeitmannschaft Knallrot Wilmersdorf kickt, befinden sich Spielerinnen, nach denen sich Berlin-Liga Clubs die Finger lecken würden – in wenigstens einem Fall auch die überregional kickenden Hauptstadt-Teams. Marie Becker (25) war Teil der U20-DFB-Auswahl, die 2014 die Weltmeisterschaft gewann. Nach ihrem Studium in den USA in Berlin gelandet, schien sie dem Fußball an den Frisbee-Sport verloren gegangen zu sein. Bis sie eben die Mädels an der Stralsunder Straße kicken sah. Sie kam im Januar 2020 vorbei, sah und blieb, und ist jetzt Schmid eine große Hilfe. „Ich muss mir wirklich noch viel erarbeiten und sie hilft mir sehr dabei“, so der 38-jährige Coach. „Für mich gilt gerade immer noch: Learning by doing.“ Becker – so hört man – lässt jedenfalls gerne einen Hauch Professionalität über den Platz wehen, Umfang und Intensität ihrer Aufwärmeinheiten wären früher leicht und locker als Konditionseinheiten durchgegangen.

„So einen Zusammenhalt auf und neben dem Platz habe ich lange oder sogar noch nie beim Fußball gespürt.“

Das komplette Paket scheint zu stimmen, dafür ist Becker nicht der einzige Beleg. Gleich zu Beginn von Schmids Ägide kam Linnea Schulz vom Lokal-Rivalen Bero. Schmid: „Eine echte Stütze.“ Selbst Laura Biele, den Berliner Freunden des Frauenfußballs vom damaligen Berliner Serienmeister SV Blau-Gelb Berlin sowie dem BSC Marzahn noch gut bekannt, machte wegen Schmid und dem Teamspirit bei der Viktoria die Rolle rückwärts. Die 30-Jährige sagt: „Ich hatte die Fußballschuhe eigentlich an den Nagel gehängt und mit den Berlin Kobra Ladies 2019 die Deutsche Meisterschaft im Football eingefahren und dachte auch erstmal, dass es so bleibt. 2020 kam dann, wie schon viele Jahre zuvor, Sara Dieng auf mich zu. Sie wollte uns endlich wieder vereinen, wir haben in der Jugend zusammen gespielt. Es hat wirklich sehr viel Überredungskunst gekostet, dass ich zum ersten Training gekommen bin. Aber dieses Team ist einfach unglaublich. Ich wurde so gut aufgenommen und habe mich sofort extrem wohl gefühlt. So einen Zusammenhalt auf und neben dem Platz habe ich lange oder sogar noch nie beim Fußball gespürt. Trotz meiner wenigen Zeit wollte ich unbedingt ein Teil von ihnen sein. Auch das Trainerteam ist einfach der Wahnsinn. Ich mag es total, es ist super engagiert.“ Wenn Biel vom Trainerteam spricht, meint sie auch Stanley Grabe, der Schmid als Co-Trainer auf und neben dem Platz tatkräftig zur Hand geht.

Viktoria erlebt also gerade eine rasante Entwicklung, die förmlich nach dem nächsten Aufstieg und der Kosmetik des Drehbuchs schreit. Vielleicht wären die Rot-Weißen bereits eine Etage höher auf Tore-Jagd, hätte die Pandemie den Amateurfußball nicht lahm gelegt. Antonio Schmid könnte es sich jedenfalls vorstellen: „Als die vergangene Saison abgebrochen wurde, standen wir auf Platz 4 und waren deutlich besser drauf als zu Beginn. Ich glaube schon, dass wir noch ein Wörtchen um den Aufstieg hätten mitreden können.“ Vor der aktuellen Saison, die seit dem dritten Spieltag auf Eis liegt und wohl abgebrochen werden wird, sprachen die Testspiele eine deutliche Sprache. Schmid wählte vorwiegend höherklassige Gegner aus und verlor mit seiner Truppe keine einzige Partie. In einem Blitz-Turnier schlug sie sogar den Regionalligisten SFC Stern 1900 – ein Achtungserfolg, auch wenn die Steglitzerinnen nicht in Bestbesetzung antraten.

Um im Bild zu bleiben: Schmidt hat das Drehbuch bereits an einer Stelle umgeschrieben – nicht was die Außendarstellung anbelangt, sondern intern. Vor seinem Start als Regisseur war das Spiel der Viktoria komplett auf Sara Dieng zugeschnitten. Das ist ihm per se nicht recht. „Dadurch wird unser Spiel ja sehr berechenbar.“ Weil Dieng zu Beginn der Spielzeit eine Babypause einlegte, funktionierte Schmidt Biele zur Stürmerin um – sehr zu deren Freude: „Ich habe das vorher nie gespielt, schade eigentlich.“ Verständliche Aussage, Biele markierte in den beiden Begegnungen ein halbes Dutzend Treffer. Es geht also auch ohne die Top-Torjägerin, was nicht bedeuten soll, dass sich Schmidt nicht auf die Rückkehr seiner Arbeitskollegin freut. Aber taktisch haben sich ihm einfach mehr Spielräume eröffnet.

Antonio Schmid hat einen guten Draht zum Team. Foto: SV Rot-Weiß Viktoria Mitte

Wenn es eines Tages wieder losgehen sollte mit dem Amateur-Fußball, dann ist im Berliner Frauenfußball mit dem SV Rot-Weiß Viktoria Mitte zu rechnen, darauf muss sich die Konkurrenz einstellen. Dieng kehrt – wegen Corona folgenlos für das Team – aus der Babypause zurück, dazu hat Schmid unter den nächsten Neuzugängen schon wieder einige vielversprechende Spielerinnen ausgemacht: Laura Michaelis und Katharina Lölkes etwa, die vom Liga-Konkurrenten Sparta Lichtenberg kamen, oder Franziska Wistuba von Sparta Göttingen. Unter Hybris leidet in Mitte aber niemand. Im ersten von nur zwei Spielen in dieser Saison lag die Schmid-Equipe 0:2 zuhause zurück, ehe sie sich versah (Endergebnis 2:2). „Ist halt so, Borsigwalde kann halt auch kicken und Coralie Kokott ist eben auch eine gefährliche Stürmerin“, resümiert Schmid. „Da müssen wir schon noch dazulernen.“

Das Rückspiel direkt nach dem Abpfiff: Flunkyball

Übrigens: Gemütlich können die Viktorianerinnen auch. Ein Bierchen nach dem Spiel, eine Runde Flunkyball gegen den Gegner als dritte Halbzeit – viel darf, nichts muss. Sicher auch ein Grund, warum keiner geht, der einmal da war. Derzeit kämpft Schmid jedenfalls wie alle Amateur-Coaches darum, seine Spielerinnen bei der Stange, fit und bei Laune zu halten. Und wie alle Amateur-Coaches würde auch er sich um ein bisschen mehr Beteiligung an den Angeboten freuen. „Ist wirklich nicht einfach“, konstatiert er. Zoom-Training, Bingo und individuelles Training je nach Corona-Lage haben die Rot-Weißen schon durch oder sind dabei. „Gerade denke ich über das Vermitteln taktischer Inhalte nach, per Handout oder online. Mal sehen“, sagt der Coach. Über Mitgliederschwund klagt er nicht. Es tut sich eben immer noch viel im Berliner Frauenfußball, auch in diesen schwierigen Zeiten. Ein Tatort heißt definitiv „Mitte“.

Die Kielerin Marie Becker im Dress der Nationalmannschaft. Heute trägt sie Rot-Weiß. Foto: Patrick Nawe

Titelbild: Laura Biele (2. Viktorianerin v. li.) trifft in der Vorbereitung gegen den SFC Stern 1900. Foto: Matthias Vogel

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