von Matthias Vogel
Sie hat am letzten Spieltag gegen den USV FF Jena II zum letzten Mal die Kickschuhe für die Regionalliga-Elf des FC Viktoria 1889 Berlin geschnürt. Schwierig für die Rießler-Elf, die ihre Größte verliert, noch schwieriger für die Torjägerin, der ein gehöriges Stück Lebensinhalt verlustig geht. Das dicke Trostpflaster für alle: Ihr letzter Einsatz war grandios und wird für alle Beteiligten unvergessen bleiben. Vorhang auf für Anja Kähler, Rasenperle der Saison 2018/2019!
Vorher noch ein kurzer Einschub: Anja Kähler hat auf dem Platz unter anderem stets unbändiger Willen und große Einsatzbereitschaft ausgezeichnet. Das ist wichtig für die letzte Episode ihre Karriere, die alleine der Fußball schreiben kann – aber eben auch nur, weil sie die diese Qualitäten immer mitbrachte. Einschub Ende.

Ausgerechnet im letzten Jahr – der Abschied der heute auf den Tag genau 32-jährigen Stürmerin kam wegen des Knorpelschadens in ihrem Knie nicht überraschend – zog sie sich Mitte der Rückrunde einen Riss des Syndesmosebandes zu. Dicke Schiene anstatt Tore im Spitzenspiel gegen Union, es drohte das beiläufige Aus anstelle eines hoch emotionalen Abschieds. „Dieses Ende wollte ich nicht“, sagt Anja Kähler. In der letzten Trainingseinheit vor dem letzten Saisonspiel machte sie ein paar Übungen mit, in der Hoffnung, Trainer Roman Rießler würde ihr zum Abschied wenigstens ein paar Minuten Aktion gönnen.
Rießler setzt auf die letzte Karte: Anja Kähler kommt
Eher kleinlaut sagte sie dann vor dem Spiel: „Der Spielstand muss schon passen, es geht ja noch um was.“ Wenn es danach gegangen wäre, hätte ihre Hoffnung nach 65 Minuten Spielzeit auf dem Nullpunkt angelangt sein müssen. Der Tabellenzweite lag bis dato gegen Jena mit 0:1 zurück. Obwohl oder gerade weil Klassenprimus 1. FC Union Berlin gegen Magdeburg in der zeitgleichen Partie Probleme hatte, brachte Rießler Kähler, 23 Minuten vor Schluss. In der 90. Minute brach sich dann dieser unbändige Wille (siehe Einschub) Bahn: Flanke, eine Kopfballabwehr kerzengerade in die Luft, Kähler verwertet den „zweiten Ball“ per Kopf zum 1:1. Grenzenloser Jubel auf und neben dem Platz wegen dieses Geniestreichs – Kähler ist im Stadion Lichterfelde eine Institution. In der Nachspielzeit fixierte Corinna Statz sogar noch den Sieg für die Himmelblauen.

Das Ganze kam – eben weil es noch um den Titel ging – fast noch besser um die Ecke als das letzte Saisonspiel des FC Bayern, als Coach Niko Kovac die scheidende Flügelzange Robbery einwechselt und sich beide Veteranen noch einmal in die Torschützenliste eintragen durften. Finale Bavarese also? Anja Kähler kommentiert die Entstehung ihres letzten Regionalliga-Treffers jedenfalls so: „Ich habe im Augenwinkel gesehen, dass die Torhüterin rauskommt und mir gedacht: So, den köpfe ich jetzt über dich drüber.“
Es ist das Happy End einer herausragenden Amateursport-Laufbahn. Mit acht Jahren nahm Alex seine um fünf Jahre jüngere Schwester Anja mit auf den Bolzplatz. Gegenrede seiner Freunde duldete er nicht, Anja war dabei. Punkt. Es wurde im Stadtpark gekickt, zu jeder Gelegenheit. „Mein Bruder hat mir immer die Regeln erklärt. Und als die anderen gecheckt haben, dass ich auch ein bisschen kicken kann, waren alle Vorbehalte vom Tisch.“ Ihr erster Verein war Preußen Berlin, bis sie nicht mehr mit den Jungs zusammenspielen durfte und sich der VfB Lichterfelde, Vorläufer der heutigen Viktoria, anschickte, alle kickenden Mädels der Umgebung einzusammeln. „Seitdem bin ich bei diesem Verein“, erinnert sich Kähler. Lockrufe anderer Clubs waren ihr bis zuletzt egal: „Hier habe ich mit meinen Freundinnen zusammengespielt und es hat immer alles gepasst, menschlich wie sportlich. Es gab gar keinen Grund zu wechseln.“
Beeindruckende Karriere
Bereits mit 15 Jahren spielte sie für die erste Garnitur des Vereins. Mit der U18-Auswahl des BFV holte sie sich den Titel beim Ländervergleich in Duisburg. Sie bestritt 208 Regionalliga-Spiele, erzielte dabei stolze 140 Treffer. Eine ähnliche Quote gelang ihr im DFB-Pokal: Sechs Spiele, vier Tore. Unvergessen bleibt in diesem Wettbewerb der Vergleich mit dem Bundesligisten Turbine Potsdam vor der atemberaubenden Kulisse von 2000 Zuschauern, in dem natürlich nichts zu holen war. In der 2. Bundesliga lief sie 22 Mal für die Viki-Girls auf, und obwohl das Team im Konzert der Großen nicht viel zu melden hatte, war auf Anja Verlass: Sieben Mal traf sie ins Schwarze. Sechsmal stand sie mit ihrem Team im Finale des Berliner Pokals, durfte drei Mal den Pott in die Höhe recken. 35 Spiele absolvierte sie in diesem Wettbewerb und machte dabei unfassbare 52 Buden. In den Spielzeiten 2016/17 und 2017/18 holte sie sich die Torjäger-Kanone der Regionalliga. Was ihr trotz mehrfacher Nominierung nicht vergönnt war, war der Titel „Berlins Fußballerin des Jahres“ – sie wird es verschmerzen.

Trainer Roman Rießler beschreibt seine Angreiferin so: „So groß ihre Qualitäten als Torjägerin, so wichtig war sie als Mensch für die Mannschaft. Ihr Verhalten war immer vorbildlich, immer ging sie voran, immer zog sie ihre Team-Kolleginnen mit – ob in brenzligen Phasen eines Spiels oder wenn im Training die Qualität abzusinken drohte. Ich bin mir sicher, dass Anja maßgeblich zur positiven Entwicklung der ersten Mannschaft beigetragen hat. Nebenbei hat sie übrigens nicht wenigen verletzten Mannschaftskameradinnen in ihrer Funktion als Physio-Therapeutin wieder auf die Beine geholfen.“
Wohl der, die alles spielen kann
Kurios ist, dass Anja Kähler eigentlich als Verteidigerin begonnen hat. „Es war wirklich so: Irgendwann fehlte jemand auf der 6, dann auf der 10 und schließlich vorne drinne“, sagt sie. Immer sei sie auf die vakante Position beordert worden und scheinbar habe sie ihre Sache nie schlecht gemacht. Und ja: Wenn man mal als Mittelfeld-Regisseur an der Kugel gewesen sei, wisse man als Stürmer eher, wie man zu laufen habe.
Wer eine Ahnung bekommen möchte, wie Kähler als Mensch tickt, rücke noch einmal die Lesebrille zurecht: „Das Größte für mich war der Aufstieg in die 2. Liga. Diese Spielklasse war mein persönliches Ziel und ich wollte es unbedingt mit unserer Mannschaft erreichen. Zu einer ohnehin ambitionierten Top-Truppe zu wechseln erschien mir zu einfach. Wir haben dann so hart darum gekämpft und am Ende gegen Union mit 2:1 gewonnen. Ich habe das Siegtor geschossen. Der Ball kam aus dem Mittelfeld von Marie Stiller, 70. Minute. Franzi Schulte, die damals noch für Union gespielt hat und heute bei uns ist, ist ein bisschen zu spät herausgerückt. Sonst hätte ich wohl im Abseits gestanden. So habe ich den Ball mit dem Oberschenkel mitgenommen und ihn an der Torhüterin vorbeigelegt.“ In der Zweiten Liga hatte die Viktoria dann nicht allzu viel zu bestellen. Für Kähler war es dennoch eine schöne Zeit. „Noch viel besser hat mir aber gefallen, dass wir nach dem Abstieg mit ganz wenigen Ausnahmen zusammen geblieben sind. So etwas stellt zufrieden.“

Jetzt ist also Schluss für Anja Kähler, zumindest als Spielerin. Sie bleibt der Mannschaft als „Physio“ und Co-Trainerin erhalten. In der ein oder anderen Ecke des Lichterfelder Stadiongeländes wird schon gemunkelt, dass bei Comeback-Gelüsten jederzeit ein Platz in der Berlin-Liga-Vertretung der Viktoria frei wäre. „Alles nur Gerüchte“, sagt Anja Kähler, die ihr Plus an Freizeit nun teils mit Reisen, teils mit beruflicher Fortbildung veredeln möchte. „Der Fußball wird mir sicher fehlen. Aber wenn ich ehrlich bin, freue ich mich auch darauf, mehr Zeit für andere Dinge zu haben. Ich habe schon sehr lange mein Leben nach dem Fußball ausgerichtet.“

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